Vor den Wahlen zum Europäischen Parlament diskutierten Interessierte am 6. Juni 2024 im Club der polnischen Versager über verschiedene Ideen für ein demokratisches und zukunftsfähiges Europa. Zuvor wurde in einer Übung zu den Wahlslogans der verschiedenen Parteien ein heiterer Abgleich zwischen Wahrnehmung und Realität gewagt.
Wahlslogans und ihre Parteien
Und das ging so : Auf Tischen waren die Wahlsprüche der Parteien ausgelegt, wie sie auf den Straßen von den Wahlplakaten prangten. Sie sollten den Logos der Parteien zugeordnet werden. Am meisten Pech hatte Bündnis90/Die Grünen : Deren Slogans wurden der SPD («Wohlstand erneuern. Machen, was zählt»), der FDP («Nur Demokratie schafft Freiheit. Machen, was zählt») oder gar der AfD («Werte verteidigen Frieden schützen. Machen, was zählt») zugeordnet. Einzig die Aussagen der Partei Volt wurden richtig zugeordnet – so unpolitisch und schlicht, wie sie vielfach formuliert waren. Das Bündnis Sahra Wagenknecht konnte mit seinen Aliterationen punkten («Maulkorb oder Meinung ?»), der CDU wurde so manches nicht erst zugetraut («Ab die Post : Für Freiheit. Für Sicherheit. Für Wohlstand.»), bei der AfD schien «Unser Land zuerst » plausibel, nicht aber « Energieversorgung sicherstellen ».
Natürlich kamen daraufhin einige Fragen zum Profil der jeweiligen Parteien im Wahlkampf auf. Und welche der angesprochenen Themen seien überhaupt europarelevant ?
Druck der Ereignisse : Europa rückt zusammen
Dies führte zu der Frage nach dem Charakter des Europäischen Parlaments – das kein Gesetzesinitiativrecht hat, wie es die Aufgabe eines Parlaments ist. Warum ist das so ? Wird dies bald geändert ? Was wissen wir über die Geschichte der Zusammenarbeit zwischen den Staaten der Europäischen Union seit dem Zweiten Weltkrieg? Was über verschiedene Überlegungen, die Menschen des Kontinents näher zusammen zu bringen, anstatt sich spalten zu lassen ?
Die verstärkte Zusammenarbeit war nach dem Ende des Krieges maßgeblich durch die USA vorangetrieben worden. Die Kredite und Hilfslieferungen aus dem Marshallplan (1948-1952) waren an die Bedingung geknüpft, dass die Staaten kooperieren und dies auch mit der Europäischen Zahlungsunion (1950-1958) hinsichtlich ihrer Währungen tun. Unter anderem das American Committee on a United Europe (1948-1960) bereitete die Gründung des Europarats 1949 vor, einer NGO, die wiederum die Bildung der europäischen Institutionen fördern sollte und die bis heute besteht. 1952 erfolgte die Montanunion, 1957 wurden die Römischen Verträge geschlossen, 1993 trat der Vertrag von Maastricht in Kraft, womit u.a. der freie Kapital-, Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehr rechtlich verankert und die Europäische Währungsunion vereinbart worden war.
Vertrag von Lissabon
Der Dauerbrenner Demokratiedefizit führte zu Diskussionen um eine Europäische Verfassung und die Einsetzung eines entsprechenden Konvents. Das Ergebnis, der Verfassungsentwurf, wurde in Volksabstimmungen 2004 und 2005 von den Bevölkerungen Frankreichs und der Niederlande mehrheitlich abgelehnt. Weite Teile des Textes fanden dennoch Eingang in den Vertrag von Lissabon (2007). Er ist bis heute das zentrale vertragliche Dokument für die zwischenstaatliche und ‘überstaatliche’ Gestaltung der europäischen Zusammenarbeit. Neuerungen waren u. a., dass die Grundrechtecharta der Europäischen Menschenrechtskonvention rechtsverbindlich wurde und die Möglichkeit einer Europäischen Bürgerinitiative geschaffen wurde (dazu bedarf es einer Million Unterschriften von Bürger/innen aus sieben Ländern). Außerdem wurden mit den Regelungen zu EU-Militäreinsätzen aus dem Wirtschaftsbündnis EU nun auch eines, das Kriege führen kann.
Manifest von Ventotene
Die italienischen Antifaschisten Altiero Spinelli und Ernesto Rossi hatten als Gefangene auf der Insel Ventotene vor Neapel 1941 ein Manifest verfasst. Darin prangerten sie Nationalismus, Durchmilitarisierung der europäischen Gesellschaften und einen Verfall von Gesellschaft als nurmehr einen Kampf zwischen Interessengruppen an. Sie sparten nicht an Kritik und diagnostizierten eine « parasitäre Existenz müßiger Grundbesitzer », « Monopole und Kartelle, die den Verbraucher ausnutzen » und « Gewerkschaften, die zu polizeilichen Aufsichtsorganen » werden.
Aufgaben der Nachkriegszeit
Für die Zeit nach dem Ende des Krieges sprachen sie sich für eine föderalistische Neugestaltung Europas aus. Das heißt, sie plädierten für einen europäischen Bundesstaat mit einer eigenen Streitmacht, damit die einzelnen Staaten nicht wieder Krieg gegeneinander führen. Von zentraler Bedeutung wurde die Rede- und Vereinsfreiheit gesehen.
Reform der Gesellschaft
Das Zusammenwirken der europäischen Staaten auf europäischer Ebene müsse mit einem Wandel der Gesellschaften einher gehen. « Die europäische Revolution muss sozialistisch sein, um unseren Bedürfnissen gerecht zu werden : sie muss sich für die Emanzipation der Arbeiterklasse und die Schaffung menschlicherer Lebensbedingungen einsetzen. » heißt es. Und weiter : « Das Privateigentum muss, von Fall zu Fall, abgeschafft, beschränkt, korrigiert oder erweitert und nicht nach einer rein dogmatischen Prinzipienreiterei gehandhabt werden. » Dies betrifft vor allem Unternehmen, die als Monopole die Macht haben, Konsumenten auszubeuten. Dazu zählen unter anderem die Energieversorgung, aber auch die Eisenindustrie, Bergewerkindustrie, Großbanken und große Unternehmen der Rüstungsindustrie (letztere zur Verhinderung von Militarismus). Außerdem solle durch eine Industrie- und Agrarreform das Besitz- und Erbrecht geändert werden, damit nicht Menschen ein Einkommen erzielen, für das sie nicht arbeiten und damit die Arbeiter die Mittel an die Hand bekommen, Einkommen zu erzielen.
Bildung und Zugang zu moderner Technik solle es Arbeiter/innen und Arbeiterkindern ermöglichen, Freiheiten wahrzunehmen – durch mehr gesellschaftliche bzw. soziale Gleichheit.
Das Manifest kann über diese Website nachgelesen werden.
Diskussion
Die meisten der Versammelten hatten von den verschiedenen Vorstellungen noch nicht gehört. Die Diskussion entspann sich an der Frage, ob die Vorstellungen der italienischen Antifaschisten noch aktuell oder durch das Scheitern des Sozialismus in den osteuropäischen Ländern bereits ‘verbraucht’ seien. Die einen bejahten dies, die anderen sahen darin Inspirationen für die Zukunft. Ein syrischer Teilnehmer fragte lakonisch : Und was ist mit dem Krieg in der Ukraine ?
Eine Veranstaltung im Rahmen des Projekts STIMM_BILDUNG – Mitbestimmung und Mitwirkung im europäischen Horizont, gefördert von der abriporta Stiftung.