„Aufstehen für einen Anderen ist ein Kampf für uns selbst.“ Der Satz war das Motto des Festivals „Kunst und Menschenrechte“ (Arts and Human Rights), das vom DAH-Theater Belgrad vom 20.-24. Juni 2023 ausgerichtet wurde. Er wurde in Verbindung gesetzt zu der Aussage von Martin Niemöller: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. […] Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ (1)
Das Programm bot vielfältige Möglichkeiten, dem Motto Gestalt zu geben: Tanz- und Theaterworkshops, Performances auf der Bühne von Theatern, Straßen und Plätzen, ein fünftägiger Workshop in Mural Painting (Wandbemalung) zu „Walls of Hope“ (Mauern der Hoffnung), eine literarisch-musikalische Waldführung, Konzerte, Filme und Diskussionsrunden mit Kurz-Performances – und vielen Gelegenheiten zum Gespräch mit den Gästen aus aller Welt.
Theaterworkshops
In den Theaterworkshops, angeleitet von Jadranka Anđelić, wurden der Bezug auf andere und auf sich selbst in einfachen wie bewegenden Übungen erlebt. Die Teilnehmer/innen sollten agieren und zugleich auf die anderen reagieren. Das hieß nicht, sie zu kopieren, aber auch nicht, sie zu ignorieren. Und das möglichst ohne zu denken und zu kontrollieren. Diese Arbeit mit der sprachlichen Vielfalt des Körpers eröffnete Möglichkeiten, eigene kreative Potenziale zu entfalten und Selbstwirksamkeit zu erfahren. Der Bezug auf Andere muss daher nicht mit dem Verlust des Eigenen einhergehen.
Konkret wurde dies auch beim Schaffen von Körper-Bildern, das heißt Standbildern über Ereignisse, die die Teilnehmer/innen mit Menschenrechten verbinden. Nach deren Vorstellung in der Gesamtgruppe konnten die anderen sich ihrerseits im Bild positionieren – ohne die Haltung, Gestik und Mimik der Figuren zu ändern. Denn: Andere Menschen kann man nicht verändern. Eher schon Situationen. Entstanden sind unter anderem Bilder zu Gewalt auf der Straße, Julian Assange und seiner Einkerkerung im Belmarsh-Gefängnis, dem „Guantanamo Großbritanniens“, und der Behinderung eines blinden Menschen beim Überqueren einer Straße.
Die Aktualität der Jugoslawien-Kriege
„Aufstehen für einen Anderen ist ein Kampf für uns selbst.“ Die Kriege in Jugoslawien in den 1990er Jahren sind noch sehr präsent – im Reden und im Schweigen. Es waren und sind oft Frauen, die Verbindungen zwischen Menschen verschiedener Gesellschaften herstellen, deren Staaten verfeindet sind, und sich für friedliche Konfliktlösungen einsetzen. Dem war das Gespräch „Over the Line“ („Über die Linie“) gewidmet. Die Leiterin des DAH-Theaters, Dijana Milosevic, befragte Ana Miljanić vom „Zentrum für kulturelle Dekontaminierung“, Staša Zajović der „Women in Black“ („Frauen in Schwarz“) und Zana Hoxha, Leiterin des Theaters und Kulturzentrums „Artpolis“ in Kosovo. Wie in jedem Krieg gingen die Kämpfe und Zerstörungen auch mit einer enormen Gewalt an Frauen einher. Die Wunden sind längst nicht verheilt. Im Gegenteil, über die Untaten und leidvollen Erfahrungen öffentlich sprechen zu können, ist noch längst nicht selbstverständlich. Im gemeinsamen Sprechen kann immerhin erfahren werden, was oft der erste Schritt zu einer Heilung oder Loslösung von den Schrecken ist: Anerkennung. Bleibt sie versagt, zieht die Gewalt weiter ihre Kreise in den Erinnerungen der Betroffenen.
Performance
Der Austausch über derart bewegende Fragen blieb nicht auf das Wort beschränkt. Die Schauspielerin und Programmgestalterin des DAH-Theaters, Ivana Milenović Popović, bot in mehreren Kurz-Performances sinnliche Eindrücke und Denkanstöße von dem, was es heißen mag, äußeren Mächten ausgeliefert zu sein und Teile des Selbst sterben zu lassen, abzuspalten, um weiterleben zu können. Bereits zu Beginn des Festivals hatte Ivana Milenović Popović ausdrucksstark ein Tabu in Serbien thematisiert: das der verschwundenen Babys. Sie wurden für tot erklärt, doch nicht auszuschließen ist, dass Menschen- und Organhandel stattfanden. Derlei Praktiken sind mindestens auch aus der DDR und der Ukraine bekannt.
Räume öffnen
Kunst und Kultur können gesellschaftliche Gegengifte gegen politischen Spannungen sein. Gerade das Theater ist ein machtvolles ‚Instrument‘, um zur Sprache zu bringen, worüber sich oftmals so schwer reden lässt. Räume werden geöffnet, Verbindungen lassen sich herstellen zwischen konkreten Menschen. Eine Chance, sich von Ideologemen freizuhalten und sich nicht daran zu beteiligen, Narrative unkritisch zu reproduzieren. In Zeiten von Krieg und Krise hat dies eine existenzielle Dimension.
Das war zu spüren, als „Over the Line“ auch die alt-neue Trennlinie zwischen Serbien und dem Kosovo berührte. Zana Hoxha hatte wegen der aktuellen Spannungen persönlich nicht kommen können. Sie war online dabei. Ein echtes Gespräch und ein symbolischer Akt von gelebter Kooperation und Verständigung. Aus der Ferne betrachtet mag dies unspektakulär anmuten. Und doch ist es angesichts komplexer politischer Konstellationen ein Zeichen von Mut und beherztem Handeln.
Job Shadowing durch Erasmus+
Das Festival ist Teil des Arbeitsaufenthaltes, den die Leiterin von weltgewandt e.V. im Rahmen des Projekts KOSMO_POLIS vom 16.06.-07.07.2023 am DAH Theatre – Research Center for Culture and Social Change | DAH-Theater – Forschungszentrum für Kultur und sozialen Wandel in Belgrad absolviert. Zwei Frauen, Dijana Milošević und Jadranka Anđelić, haben es 1991 gegründet. Es gilt als das erste unabhängige und experimentelle Theater in Jugoslawien.
„In meiner Sprache bedeutet „Dah“ Atem, Geist und Bewegung der Luft. Für uns in meinem Theater bedeutet es auch, Kraft zu sammeln, durchzuhalten, spirituell und kreativ zu sein. Wenn man es rückwärts liest, wird es zu „Had oder Hades“, der Unterwelt in der griechischen Mythologie.“ – Dijana Milošević (2)
Und was sagen andere?
„Ich habe ihre Aufführungen gesehen, die das Leben feiern. Ich denke an Mut, Würde, Beharrlichkeit, künstlerische Finesse und dunkle Themen, die die Grenzen der Kunst überschreiten. (…) Sie waren und bleiben Schmetterlinge. Wie ein Geheimnis beobachte ich, wie sie träumen, aus dem Fenster fliegen und direkt in die Geschichte eintauchen.“ – Eugenio Barba, Direktor des ODIN-Theaters, Dänemark (3)
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1 Martin-Niemöller-Stiftung, http://martin-niemoeller-stiftung.de/martin-niemoeller/als-die-nazis-die-kommunisten-holten
2 In: Cleveland, William, Art and Upheaval. Artists on the World’s Frontlines, Foreword by Clarissa Pinkola Estés, New Vilaage Press, Oakland, CA 2008, S. 277
3 Website DAH-Theater, https://en.dahteatarcentar.com/
Bilder: Đorđe Tomić (Beitragsbild, Theaterworkshop), Sophia Bickhardt
Der Arbeits- und Lernaufenthalt wurde über das Erasmus+-Programm der Europäischen Union gefördert.