Ein leiser Schatz, der laut verbindet

Viele Menschen sind mehrsprachig. Und viele wissen diese Kompetenz nicht zu schätzen. Warum? Ist man erst dann mehrsprachig, wenn man alle Sprachen auf muttersprachlichem Niveau beherrscht? Fünf Bewohner/innen aus Marzahn und zwei Weltgewandte stellten sich diese und weitere Fragen während eines sechstägigen Workshops in Marseille.

Sprachengemisch

Herzlich empfangen von Aktiven des Centre social et culturel la Garde, loteten sie gemeinsam verschiedene Facetten von Sprache aus. Sie tauchten ein in das selbstverständliche Sprachengemisch der Stadt, in dem französische, arabische, armenische, italienische, spanische und andere Sprachmelodien erklingen. Sie erfreuten sich Tag um Tag der “sonnigen” Bewohner und kamen schnell mit ihnen in Kontakt. Im MUCEM, dem Musem der Kulturen und Zivilisationen des Mittelmeerraums, lernten sie Interpretationen der ‘Sprache’ von Ruinen kennen und staunten über die offenen Worte der Museumspädagogen zu “Zivilisation” als einer Rechtfertigung von Kolonialismus.

Sprache der Steine

Die Berliner/innen durchstreiften die Stadt und trugen ihre Assoziationen zu bemerkenswerten Gebäuden zusammen. Sie schrieben auf, was ihnen diese zu Sprache ‘sagen’. Sie ließen sich von der ‘matriarchalen’ Kirche Notre Dame de la Garde berühren, die sich auf dem höchsten Hügel der Stadt erhebt. In kaum einer anderen Kirche in Europa ist über dem Altar eine Frau mit einem Kind auf dem Arm zu sehen. Der “Mann am Lattengerüst” (Hermann van Veen), der sonst und damit prominent an dieser Stelle steht, ist in Notre Dame de la Garde eine Randerscheinung. Welche Botschaft transportiert das? Leben geben und eine besondere Wertschätzung von Geboren werden, von Natalität?

Im bitteren Kontrast dazu stehen die Reste des “Südwalls”, der Militäranlagen, die die deutschen Faschisten während der Okkupation auf den Frioul-Inseln vor Marseille ausgebaut hatten. Die “Sprache der Macht” in seiner rohen Gewalt wurde an diesem Erinnerungsort auf gespenstische Weise spürbar. Dort auch fanden Kämpfe um das Ende der deutschen Besatzung im August 1944 statt. Glücklicherweise konnten die Teilnehmer/innen selbst von diesem Un-Ort auf die “Bonne Mère” (Notre Dame de la Garde) blicken und damit den positiven Bezug auf Leben und ‘nährende’ Sprache nicht aus den Augen verlieren.

Miteinander sprechen

Im Stadtteilzentrum nahmen die Berliner/innen am Alphabetisierungskurs zum Erlernen der französischen Sprache teil und kamen mit den Teilnehmer/innen in Kontakt. Sie erfuhren, wie Geflüchtete in Frankreich unterstützt werden, um die Sprache zu lernen und im Land anzukommen. Gemeinsam machten sie Übungen zu Kommunikation, der Macht von Körpersprache und der manchmal gebrochenen Einheit von körperlichem Ausdruck und gesprochener Sprache.

Die berliner Gruppe hatte auch die Freude, bei einem regulären Treffen mit Teilnehmer/innen des Zirkels besonders kulturinteressierter Bewohner des Stadtteils dabei zu sein. Gemeinsam erprobten sie, wie Regeln den Austausch bestimmen und was ist, wenn sich Menschen zu ihnen gesellen, die mit anderen Regeln vertraut sind. Wie kann man dann zu einer Übereinkunft kommen? In dem die Neuen sich einfach anpassen? Hilft das der gesamten Gruppe?

Straßeninterviews

Noch lebendiger wurde es in der Begegnung mit Jugendlichen des Stadtteilzentrums. Das Thema Sprache und Mehrsprachigkeit wurde nonchalant und ganz praktisch real: In vier kleinen Gruppen bereiteten sich die Jugendlichen und ihre Gäste darauf vor, auf der Straße Interviews mit Passanten zu führen. Dazu entwickelte jede Gruppe vier Fragen. Beispiel: “Wie viele Sprachen sprechen Sie?”, “Welche Sprache kann man schnell lernen?”, “Verstehen Sie die Sprache der Politiker?” “Haben Sie das Gefühl, dass diese Sie hören und verstehen?”, “Welche französische Redewendung mögen Sie am meisten?”, “Warum finden die anderen Länder es schwierig, die französische Sprache zu lernen?”, “Inwiefern hat ChatGPT/Ia unser Verständnis von Sprache verändert?”, “Ist Marseille die Stadt Ihres Herzens?”

Allen war etwas bange, auf fremde Menschen zuzugehen. Doch der Mut hat sich gelohnt. Fast alle Angesprochenen gaben ein Interview. Und alle sagten, dass Marseille die Stadt ihres Herzens sei. Ob die Antworten in Berlin ähnlich ausgefallen wären?

Forum-Theater

Die Erlebnisse, Eindrücke und Überlegungen der Woche wurden schließlich von den berliner und marseiller Teilnehmer/innen in Spielen und Übungen aus dem Spektrum des Theaters der Unterdrückten (Augusto Boal) aufgenommen und mit der Entwicklung von Szenen kreativ verarbeitet. Beide Episoden spielten in einem Transportmittel. Besonders markant war die zweite: Sie ‘ereignet’ sich im Zug von Bombay nach Mombay, als ein Journalist Reisende interviewen möchte, diese seine unbeholfenen Anfragen aber als ungebührliche Annäherungsversuche verstehen und ihn kurzerhand aus dem Zug werfen.

Was haben die Zuschauer/innen wahrgenommen? Welche anderen Lösungen hätte es geben können? Sie probierten es aus, indem sie einzelne ‘Schauspieler’ ersetzten und dem Ausgang eine neue Wendung gaben. Auf diese Weise konnten die Beteiligten lernen, dass es oft verschiedene Möglichkeiten für eine Lösung gibt – und sich darin bestärkt fühlen, ihren Auffassungen Ausdruck zu geben.

Was bleibt?

Während des gesamten Workshops wurde deutsch-französisch und französisch-deutsch übersetzt. Zugleich brachten die Teilnehmer/innen ihre Sprachkenntnisse ein: Junge Marseillerinnen überraschten mit fehlerfreien deutschen Sätzen, andere tauschten sich auf Spanisch, Persisch oder ‘mit Händen und Füßen’ aus. Mehrsprachigkeit wurde gelebt und geschätzt – ohne perfekt zu sein. Und dies im Wissen um Grenzen. So schrieb ein Teilnehmer: “Ich kann französischen Leuten nicht meine Meinung mitteilen. Deswegen habe ich versucht, mit Körper, Mimik und Gestik zu zeigen und zu erzählen. Das kann gelegentlich zu Missverständnissen führen.

Die Reise fand bei allen, die dabei waren, viel Zuspruch. Ein Teilnehmer schrieb: “Ich habe über Sprache gelernt, dass sie nicht nur aus dem gesprochenen Wort besteht, sondern dass auch Körpersprache, Kultur und Kunst eine sehr wichtige Rolle spielen. […] Alles wurde mit Freundlichkeit und Herzlichkeit gemeinsam durchgeführt. Und genau das waren die Sprachen, durch die wir miteinander kommuniziert haben – obwohl wir ihre gesprochene Sprache nicht verstanden haben.”

Andere Teilnehmer schrieben: “Wie viele Möglichkeiten man doch hat, um zu kommunizieren – egal, ob es zwischen Menschen ist, eine Wandgestaltung oder die Ausstrahlung eines Gebäudes.”, “Über Körpersprache kann man viel erreichen.”, “Wir haben in Frankreich unser Deutsch verbessert.”, “Das Theaterprogramm zur Sprachförderung war sehr gut.

Die Marzahner Gruppe setzte sich aus Bewohnern der Geflüchteten-Unterkunft und Einwohnern des Stadtteils zusammen. Sie wollen weiterhin in Kontakt sein, sich beim Deutschlernen unterstützen und gemeinsam die Kultur Berlins entdecken.

Video des Teilnehmers Musa Mowahid

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